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Kernspaltung

(8253 Zeichen, veröffentlicht zu Karin Jobsts Diplomarbeit "atomar---zone 1", www.karinjobst.de)

Im Atomkraftwerk Springfield sitzt Homer Simpson vor seinem Kontrollpult und döst vor sich hin. Plötzlich leuchten alle Lampen auf, der Raum ist in das rote Licht der Notbeleuchtung getaucht und eine markerschütternde Sirene durchdringt die Szene. Die Belegschaft des Kraftwerks bricht in Panik aus, es kommt zu Plünderungen und Gebeten. Selbst die Ratten verlassen bereits das Betriebsgelände. Der Besitzer des Kraftwerks, C. Montgomery Burns, beschwichtigt die Öffentlichkeit: „Kernschmelze – das ist wieder eines dieser billigen Schlagworte. Wir nennen dies lieber einen unangeforderten Spaltungsüberschuss.“ Nachdem Homer feststellt, dass die Bedienungsanleitung für die Atomanlage so dick ist wie ein Telefonbuch, muss er sich eingestehen, dass er völlig überfordert ist: „Nein! Wer kann denn schon ahnen, dass ein Kernreaktor so kompliziert ist!“. In Springfield spielen sich bereits Weltuntergangsszenarien ab. Homer beginnt, die Knöpfe auf seinem Pult mit einem Kindervers auszuzählen und drückt auf den so gewählten Schalter. Sieben Sekunden vor der endgültigen Kernschmelze wird es wieder hell im Raum und eine Maschinenstimme verkündet, dass alle Systeme normal arbeiten. Die Krisensituation ist gemeistert und Homer weiß nicht genau, wie er das gemacht hat.1

Nur ein amerikanischer Cartoon? Eine völlig übertriebene Karikatur der wirklichen Arbeitsabläufe? Davon sollte man ausgehen. Oder hat der zuständige Arbeiter im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 ähnlich gehandelt und nur nicht so viel Glück bei der Wahl seines Knopfes? Wir wissen es nicht genau.

Kernkraftwerke sind Hochsicherheitsareale, weitläufig abgesperrt, mit hohen Zäunen gesichert, voll gestopft mit Sicherheitstechnik, Schutzanzügen, Dekontaminationsschleusen, Geigerzählern und allem möglichen weiteren Mobiliar, das wir kaum verstehen. Insgesamt ist diese Technologie so komplex und kompliziert, dass es den meisten Bürgern wohl ähnlich wie Homer Simpson ginge, würden sie versuchen zu verstehen, wie ein Kernreaktor genau funktioniert.

Die Technik scheint ähnlich unbegreiflich zu sein wie die atomare Strahlung selbst. Wir haben einfach keine Wahrnehmungsorgane dafür, weder für die Strahlung, noch für die Prozesse, die in einem Kernreaktor ablaufen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als den zuständigen Experten zu vertrauen. Selbstverständlich ist dies auch bei anderen Technologien der Fall, wer versteht schon, wie ein Computerchip hergestellt oder auch nur unser Abwasser aufbereitet wird? Aber bei keiner anderen Technologie ist menschliches und technisches Versagen auch nur annähernd so verheerend, wie bei einem Kernreaktor. Nur diese Technik sorgt dafür, dass ganze Regionen nach einem größten anzunehmenden Unfall (der Superlativ „Super-GAU“ in diesem Zusammenhang ist bezeichnend) über tausende von Jahren hinaus für den Menschen unbenutzbar werden.

Auch die Atomanlagen selbst sind unfassbar: das Betreten der Betriebsgelände ist in weitem Umkreis verboten, die Zu- und Einfahrten sind streng kontrolliert, die Polizei sichert Atommülltransporte mit vielen Hundertschaften und riegelt unter Umständen ganze Bahntrassen systematisch ab. Mit unvergleichlichem Aufwand wird dafür gesorgt, dass nur Eingeweihte und Auserwählte in direkten Kontakt mit der Kerntechnologie kommen. Probleme und Störfälle scheint es nicht zu geben, zumindest wird nicht öffentlich darüber gesprochen. Ob die Beherrschung dieser Technologie Größenwahn ist oder Alltag, wissen wir nicht. Nur in privater Atmosphäre bekommt man vom Fachpersonal zu hören, es gäbe regelmäßig Störfälle, die wahrscheinlich auch öffentliche Beunruhigung auslösten, würden sie bekannt. Normal wären diese jedoch eigentlich schon, die Anlage sei schließlich in Betrieb und würde letztendlich immer noch von Menschen bedient.

Wen wundert es da, dass auch unsere Sorgen und Ängste in Bezug auf die Kernkraft diffus und unbestimmt sind. Dabei wissen die meisten sicherlich, dass die Kontamination mit radioaktiver Strahlung nicht nur Strahlenkrankheit mit Symptomen wie Übelkeit, Blutungen und Haarausfall auslöst, sondern auch eine ganze Reihe von Erbgutveränderungen und Krebserkrankungen verursacht. Doch wir lassen die Angst vor Erkrankung nicht zu und trennen sie auch in der öffentlichen Diskussion von Fragen nach Versorgungssicherheit und globalen Energiemärkten. Es drängt sich die Vermutung auf, dass nur der Nutzen der Kernkraft vergesellschaftet wird (welchen Gesellschaften sie nutzt, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden), angerichtete Schäden werden dagegen personalisiert und auf den Einzelnen abgewälzt. Seit fast zwanzig Jahren gibt es beispielsweise Streit darüber, ob der nachgewiesene Anstieg der Leukämierate bei den Kindern der Elbmarsch um Geesthacht auf das Kernkraftwerk Krümmel und das benachbarte Kernforschungszentrum zurück zu führen sei oder nicht2. Auftretende Krebsfälle werden im direkten Umfeld eines Kernkraftwerks auch mal mit der Bemerkung „der hat den Krebs nicht im Griff“ kommentiert, als ob diese Krankheit nur auf den Lebensstil des Einzelnen zurückzuführen sei und Umweltbedingungen keinen Einfluss hätten.

Die Friedensbewegung der 80’er Jahre schaffte es zumindest zeitweise, persönliche Angstgefühle auf der Straße zu kollektivieren und zu kommunizieren. Die Proteste gegen Atomkraftwerke und die friedliche Nutzung der Kernkraft konzentrierte sich dagegen stets auf begrenzte Orte die unmittelbar betroffen waren: Wackersdorf, Wyhl, Gorleben. Große Protestmärsche Richtung Bonn oder Berlin fanden kaum statt. Lediglich nach dem im Jahr 2000 von der rot-grünen Bundesregierung beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie loderte die Diskussion noch mal kurz republikweit auf. Ansonsten findet Kernkraft im öffentlichen Bewusstsein nur kurz vor und nach einem weiteren Atommülltransport nach Gorleben statt. Und selbst da stehen die Kosten des Polizeieinsatzes viel weiter im Vordergrund als die Ängste, die die Demonstrierenden vielleicht antreiben.

Kernspaltung findet also nicht nur innerhalb eines Reaktors statt. Die Aufspaltung des Themas Kernkraft in persönliche Angst und allgemeinen Nutzen ist vollständig. Hätten wir es als Gesellschaft nicht geschafft, unsere Angstgefühle von der Kernkraft als abstrakter Technologie und Politikum abzuspalten, hätte ein Ausstieg aus dieser Technik wahrscheinlich nie stattfinden müssen, weil es nie einen Einstieg gegeben hätte. Angst spielt offensichtlich nur dann eine Rolle, wenn es um persönliche Betroffenheit und Schuldgefühle geht, auf der Ebene, auf der politische Entscheidungen getroffen werden, findet sie keinen Niederschlag. Dem Einzelnen im direkten Umfeld von Atomkraftwerken bleibt oftmals kaum eine andere Möglichkeit, als sich von seinen Angstgefühlen zu trennen, zumindest, wenn er oder sie weiterhin an dieser Stelle leben möchte. Und man profitiert ja auch: der Arbeitsplatz ist gesichert, die Gewerbesteuerzahlungen an die Gemeinde sind erheblich. Würde man die eigenen Ängste zulassen, müsste man Konsequenzen ziehen, die das ganze Leben umkrempelten.

Kein Wunder also, dass in aktuellen Umfragen die Angst vor einem atomaren Unfall weit hinter der Angst vor Arbeitslosigkeit, einem Terroranschlag oder der Sorge um den Anstieg der Lebenshaltungskosten rangiert3.

Im Sommer 1991 hatte ich übrigens Gelegenheit, einige der Liquidatoren kennen zu lernen, die nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl aufräumen mussten. Wir besuchten mit einer Reisegruppe unseres Kreisjugendrings die landschaftlich schön gelegene Spezialklinik nördlich von Minsk, in der nicht nur strahlenkranke Kinder untergebracht waren, sondern eben auch die Arbeiter, die mit dem Unfall unmittelbar konfrontiert waren. Sie waren ganz anders als Homer Simpson, stark, muskelbepackt, intelligent. Sie wussten genau, was sie da taten. Und sie wussten genau, dass es jemand machen muss. Was mich am meisten beeindruckte, war, dass die Liquidatoren weniger auf den Tod warteten als vielmehr darauf, dass es ihnen einfach nur schlechter ging. Beides war unvermeidlich. Selbst Technikern, die anders als Homer Simpson genau wissen, was bei einem Störfall zu tun ist, bleibt also unter Umständen nichts anderes übrig, als ziellos aufs Kontrollpult zu hämmern und zu hoffen, dass der richtige Knopf dabei ist.


Peter Hampel

Juni 2007

1 Die Simpsons – die komplette Season 3, Folge 5 „Der Ernstfall“, Kauf-DVD