Peter Hampel zurück zum Anfang

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Name

Adresse

Emailadresse

Telefonnummer

Martin Parr und die Frage nach der Künstlichkeit der Welt

(11.812 Zeichen, veröffentlicht in „Kunst + Unterricht“ Heft 302/303, 2006


Martin Parr fotografiert Engländerinnen und Engländer: was sie essen, wohin sie verreisen, wie sie ihre Wohnungen einrchten. Aus dem Englischsein bezieht Martin Parr seine Stärke und seine Motive.

Nun ist der Nationalismus bei den Briten allerdings ein anderer Topos als bei den Deutschen der letzten sechzig Jahre. Die Queen, die Kolonien, der britische Fußball – dies eint die Briten und macht aus dem Volk eine Nation. Eine Nation, die dem Briten manchmal peinlich ist, über die er sich hin und wieder ärgert, die er aber liebt wie keine andere. Das alles findet man in Parrs Bildern.

Den Foto-Serien gemein sit die extreme Farbigkeit, die Parr dadurch erhält, dass er auf hochgesättigtem Amateurfilm mit direktem Blitzlicht fotografiert. Seine Bilder erhalten so eine Künstlichkeit, die man sonst nur aus der Malerei – etwa bei Vincent Van Gogh oder Peter Doig – kennt. In seinen bekanntesten Bildern hat Parr Lebensmittel fotografiert, die sich durch ein hohes Maß an industrieller Bearbeitung und die entsprechende künstliche Anmutung auszeichnen (z. B. „Common Sense“, 1995 – 99). Auch seine Bilder von Menschen oder Menschendetails zeigen Spuren von Künstlichkeit: Lippenstift, Kopfbedeckungen, Badelatschen oder sonnenverbrannte Dekolletès. Anderswo, beispielsweise in Japan, fällt ihm sogar die Künstlichkeit der Gesten auf (z. B. „Japonais Endormis“, 1998).

Die Frage nach einer künstlichen Umwelt ist so britisch wie Martin Parrs Bilder; schließlich nahm die Industrialisierung der Erde ihren Ausgangspunkt in Großbritannien. Hier trat der Paradigmenwechsel von der „natürlichen“ zur „künstlichen“ Umwelt zuerst in einem Maßstab auf, dem wir heute das Mobiltelefon und die Massenarbeitslosigkeit verdanken. Und dementsprechend gibt es auf den Britischen Inseln auch eine gewisse Tradition, die Künstlichkeit ins eigene Heim, ins eigene Umfeld zu tragen – etwa Häkeldeckchen und dicke Plüschteppiche.

Eigentlich ist Martin Parr Reportage- und Dokumentarfotograf. Die frühen Reportagen sind ganz offensichtlich von seinen großen Vorbildern Henri Cartier-Bresson und Bill Brandt beeinflusst. Dasselbe „klassische“ Schwarz-Weiß, dasselbe sozialkritische Engagement. Mit dem Umstieg in die Farbfotografie löste er sich von diesen Vorbildern und entwickelte seinen inzwischen unverwechselbaren Stil.

Doch Martin Parr wäre nicht Martin Parr, wenn er diese Entwicklung zur Marke, zur „Brand“ nicht ebenso mit Selbstironie und viel Blitzlicht zum Thema machen würde, wie beispielsweise pinkfarbene Törtchen oder Pudel mit Sonnenbrillen.

Martin Parr hat ein eigenes Modemagazin gemacht: „Fashion Magazine by Martin Parr“ (Parr 2005). Hier treibt er all das, was ihn seit Jahrzehnten beschäftigt auf die Spitze: die Gesten, die Farben, die Materialien, kurz die Künstlichkeit des modernen Lebens in unserer marktwirtschaftlich geprägten Welt. Für dieses Magazin machte Martin Parr alles selber: die Modestrecken, die Inszenierung von Accessoires, die Interviews mit Größen der Szene, die Food- und Beauty-Tipps, die Leserbriefe und die Werbeanzeigen von Firmen wie Hermés, Lacoste oder Dior. Die Selbstreferenzialität dieser künstlichen Welt überhöht Parr, indem er bereits fertige und gedruckte Anzeigenmotive – die ja ihrerseits bis aufs Kleinste inszeniert und durchgestylt sind – inszeniert, stylt und fotografiert und somit das Markenzeichen des Werbekunden mit seinem eigenen Brandzeichen versieht. Die Künstlichkeit des abfotografierten Motivs verstärkt Parr gelegentlich noch durch offensichtliche Requisiten: einen Hotdog aus Kunststoff, blaue Flokati-Wellen, eine blau-weiß karierte Tischdecke.

Doch Martin Parr entgleitet nie komplett in die künstliche Welt der Werbung und Mode. In allen Beiträgen des Modemagazins geht es zugleich auch um Alltag – als Gegenwelt zur Mode- und Werbewelt. Ihn interessieren die Grenzen, die Gelegenheiten, wo das eine nicht mehr klar vom anderen zu trennen ist. Das können die Farben der Kleidung von Straßenpassanten sein: „The moment someone is wearing something in a photo, it’s fashion photography.“ PARR 2005, S. 32), das können aber auch die Alltagsrituale innerhalb der künstlichen Welt der Mode sein, wie sie Parr am Rande verschiedener Fashion-Events beobachten konnte („Couture Kisses“ 2005). Küsschen hier, Küsschen da, wer begrüßt wen zuerst mit welcher Intensität? Die so in der Bewegung der Kontaktaufnahme Festgehaltenen könnten auch Mitglieder einer Straßengang sein, die sich über künstlich inszenierte Gesten und Rituale ihrer Gruppenzugehörigkeit versichern. Mit der Platzierung dieser Serie zu Beginn des Magazins unterstreicht Martin Parr, dass er nun eine für ihn fremde Welt betritt. Fremder als die der Erholungsuchenden New Brightons oder in Boring, Oregon. Außerdem betont er, dass er Spaß daran hat, dieses Spiel mit zu spielen obwohl oder gerade weil er dessen Regeln noch nicht versteht: „I love playing the game of fashion photography without knowing what the rules are.“(ebd.)

Der nächste Beitrag verdeutlicht Parrs Haltung der Fotografie, der Kunst gegenüber. In dem Porträt, das er vom Fotografen Nick Knight zeichnet, sieht er gleichzeitig seine Auffassung von der Aufgabe eines Fotos gespiegelt, obwohl Nick Knight eine zutiefst gegensätzliche Herangehensweise an seine Bilder praktiziert. Wie ein Wissenschaftler oder ein Alchimist werkelt Knight in seinem Studio und versucht durch gezielte Eliminierung aller störenden Einflüsse, die reine Form, die reine Komposition zu erreichen. Dem gegenüber wirkt Parr wie ein rasender Reporter, bei dem das eigentliche Objekt des Interesses und der Bewerbung vor lauter Umgebung in vordergründiger Unschärfe verschwindet.

Was die beiden unterschiedlichen Künstler jedoch verbindet, ist die Ansicht, dass es in der Fotografie immer um die Konstruktion von Wirklichkeit geht. Die Welt, die Martin Parr in seinen Bildern festhält ist also mehrfach künstlich. Parr interessieren die Fußgängerzonen und Supermärkte, nicht die Regenwälder und Eiswüsten; auch der Blickwinkel auf diese Welt menschen-, parrgemacht und kann genauso diskutiert werden. Und als ob das noch nicht reichen würde, muss man sich als Betrachter oder Betrachterin fragen lassen, warum er/sie Parrs Bilder witzig oder schockierend, entlarvend oder verherrlichend auffasst.

Dass Martin Parr durchaus in der Lage ist, auch mit Topoi der Kultur- und Kunstgeschichte zu spielen, zeigt beispielsweise, die in seinem Fashion Magazine vertretene Serie „Dakar“. Martin Parr hat sich auf den Straßenmärkten der westafrikanischen Hauptstadt umgesehen und dabei Motive entdeckt oder inszeniert, wie sie einem Gaugin oder Rousseau nicht besser hätten einfallen können. Die Sonne scheint, die Farben leuchten in ihrer kunststoffenen Pracht. Die Welt Afrikas scheint genau so zu sein, wie der mit grauem Winterwetter konfrontierte Europäer sie sich vorstellt. Und doch bleiben die Modelle, die Fotografierten gesichtslos. Die Kleidung und die Accessoires, beworben durch die bunten Bilder und die dazugehörigen Credits am unteren Bildrand, werden von Menschen getragen, deren Gesicht man nicht wahrnehmen kann, denn entweder ist der Ausschnitt zu knapp gewählt oder es versteckt sich hinter einer Sonnenbrille. So bilden sie ideale Projektionsflächen für eigene Wünsche und Vorstellungen. Die Gesichter die man sehen kann, betrachten die Szene des Modeshootings vom Hintergrund aus. Sie sind skeptisch, befremdet und man weiß nicht genau, warum Es ist typisch für Martin Parr, dass diese Gesichter im Hintergrund auftauchen und so den Blick der Mode- und Kunstwelt von innen nach außen reflektieren und auf sich zurück lenken. Die Parallelwelt bleibt im Hier und Jetzt verankert, der Betrachter, die Betrachterin fragt sich nicht, wo er/sie diese Sachen kaufen kann, sondern vielleicht, wie die Menschen im Senegal mit der modernen Welt klar kommen.

Und doch tauchen unwillkürlich Exotismen vor dem inneren Auge auf, wenn man den Namen Dakar mit farbigen Menschen im grellem Sonnenlicht des „schwarzen Kontinents“ verbunden sieht: einfaches aber glückliches Leben, Wildheit, Rhythmus im Blut, Fröhlichkeit. Exotismen, die von der Werbewelt nach wie vor gerne benutzt werden, um Produkte am Markt zu platzieren. Exotismen, die Martin Parr bricht, indem er städtische Straßen und Märkte zur Location macht und so verdeutlicht, dass das moderne Afrika hart daran arbeitet, seinen Platz im globalisierten Markt zu finden und zu behaupten.

Der Schritt von den Märkten des Senegal zu den Supermärkten New Jerseys ist also kleiner, als man annehmen könnte. Bei Martin Parrs Fashion Magazine reicht einfaches Umblättern. Die Klammer „Alltag“ greift auch hier. Die Models sind durchgängig mit alltäglichen Verrichtungen beschäftigt, eigentlich nur mit einer Beschäftigung: Einkaufen, Konsum. In „Junk Space“ wird deutlich, was Parr meint, wenn er Grenzen überschreitet, sich nicht an Regeln hält, die andere aufgestellt haben: virtuos mischt er inszenierte Bilder mit „Schnappschüssen“; gemietete Models mit zufälligen Passanten; Reportage, Mode und Kunst. Und bei aller Künstlichkeit der modernen Shopping-Welt geht die Spur der Natur, der Wildnis nicht verloren. Die Tiger- und Leopardenmuster in der Kleidung der Protagonistin fallen ins Auge – wilde Muster, gedruckt auf kunststoff-Textilien.

Eine gelungene Modestrecke. Brillant wird sie jedoch erst durch die dazwischengeschobenen „Schnappschüsse“, Bilder von echten Einkaufszenen in echten Supermärkten mit echten Menschen, die allerdings ebenso verloren wirken wie das professionelle Model. Durch diesen Kunstgriff schafft es Martin Parr, dass wir nicht völlig in die Kunstwelt der Mode abtauchen können. Die zwei Welten überblenden irisierend und uns wird klar, dass wir eigentlich keine Wahl haben, ob wir in der künstlichen oder in der natürlichen Welt leben. Die eine bricht immer in die andere ein und mit den entstehenden Widersprüchen haben die meisten von uns ganz gut gelernt umzugehen.

Im Duden wird der Begriff „künstlich“ als „von Menschenhand gemacht; nicht natürlich; gewollt“ (Duden, Mannheim 2004) umschrieben. Und genau das ist es, was Martin Parr uns zeigen will. Er macht deutlich, dass wir, also die Menschen, selbst bestimmen, wie die Umwelt, in der wir leben, aussehen soll. Dass Lebewesen ihre Umwelt gestalten, ist keine Seltenheit, das machen Biber und Termiten ebenfalls. Aber der Mensch hat die kommunikativen Fähigkeiten und den freien Willen, sich darüber auszutauschen, in welcher Weise die Umwelt verändert werden soll. Und auch wenn wir inzwischen in einer Zeit leben, die durch Globalisierung und multinationale Unternehmen bestimmt scheint, zeigen Martin Parrs Bilder, dass es nach wie vor Verhandlungssache ist, wie man lebt und welche Farbe die Nahrung hat.

Kein Grund zu verzweifeln. Die Welt ist nicht hässlich und auch nicht schön. Die Welt ist. Und wir dürfen alle mitentscheiden, wie sie aussehen soll.


Literatur:

PARR, Martin: Fashion Magazine by Martin Parr; Paris 2005

WILLIAMS, Val: Martin Parr; Berlin 2004