Fluchtpunkt Wildnis - unberührte Natur als kulturelle Reibungsfläche
Kurzexposee
„Last Week, in Antarctica, I saw extraordinarily dramatic landscapes, rare and wonderful. It was the most vivid experience in my life. Yet it was deeply disturbing, as well, for I could see this world changing. The age-old ice is melting, far faster than we think” 1
Wildnis ist nicht einfach nur Natur, nicht nur Fauna und Flora. Wildnis ist vielmehr eine Erfahrung, das Erleben einer Situation, geprägt von tiefer Ambivalenz aus angezogen werden und abgestoßen werden. Zur Lust an der Regel- und Zügellosigkeit und dem Empfinden von Schönheit gesellt sich die Angst vor der Überwältigung der eigenen Person durch die Wildnis. Ob durch vorzeitliche Monster, tausende von Kakerlaken oder dem Fehlen der richtigen Ausrüstungsgegenstände, immer besteht die Gefahr des Kontrollverlusts, der Überwältigung durch Kräfte, die man selbst nicht beeinflussen kann und die einen, wenn nicht gar das Leben, so doch zumindest die Gesundheit kosten kann. Andererseits geht von dieser Situation aber auch eine Anziehungskraft aus, die sich nur schwer fassen lässt. Das ist nicht einfach nur „schön anzusehen“, die Wildnis scheint eher eine sehr archaische Seite in uns anzurühren und weckt so die Sehnsucht nach dem Einssein mit der Natur und dem Universum.
Aus dieser Ambivalenz gewinnt das Thema Wildnis große Kraft und sorgt so im modernen Mediendschungel für erheblichen Mehrwert. Nichts scheint zurzeit ein Produkt neben Kindern und Tieren so gut zu verkaufen wie unberührte Natur und menschenleere Landschaft. Auch im Kino sorgt die Konfrontation mit dem Ungezähmten, dem Wilden, für volle Kassen. Und das unabhängig von Raum, Zeit und Biologie, neben „King Kong“ etwa bei „Hulk“, dem „Herrn der Ringe“ oder „Alien“. Es scheint keinen kulturellen Bereich zu geben, in dem Wildnis nicht früher oder später zum Thema wird.
Wir scheinen (wieder einmal) an einer Zeitenwende zu stehen. Das Zitat des UNO-Generalsekretärs Ban Ki Moon deutet es an. Die Gefahren der Wildnis und den Schrecken des Kontrollverlusts konnten Generationen vor uns noch bei der Entdeckung neuer Kontinente, Wüsten und Wälder erleben. Die ultimative Überwältigung des Menschen durch eine übermächtige Natur scheint in unseren Tagen der ökologischen Krise eher durch deren Verschwinden einzutreten. Nicht die Eismassen der Antarktis bedrohen Insel- und Küstenbewohner, sondern deren Abschmelzen und der daraus resultierende Anstieg des Meeresspiegels und lässt die Menschheit im Ganzen buchstäblich fassungslos zurück. Die scheinbar beherrschte Natur schlägt in Form von Wildnis zurück. Hier tritt etwas ein für das wir, ähnlich der atomaren Strahlung, kein Sensorium haben. Inzwischen wird von kaum einem ernst zu nehmenden Wissenschaftler bestritten, dass dieser Klimawandel vom Menschen, von unserer Technik, von unserem Lebensstil verursacht wird. Naturphänomene wie Stürme, Hitze, Überschwemmungen oder Trockenheit werden nicht mehr als lokale Wildnis wahrgenommen, sondern, auch dank einer inzwischen ebenso globalen Kommunikation, als Teil des weltweiten Klimawandels. Damit stellt die Erderwärmung ein Gebiet dar, das die Menschheit offensichtlich nicht kontrollieren kann und das sie (oder zumindest große Teile von ihr) elementar in ihrer Existenz bedroht, gewissermaßen eine Metawildnis.
Wie werden wir in Zukunft damit umgehen? Kann es überhaupt Handlungsstrategien zur Bewältigung solch einer Übermacht geben? Vielleicht lohnt sich dafür ein Blick auf die Wildnis, wie sie bisher selbstverständlicher Teil unserer Kulturgeschichte war.
Für die vorliegende Masterarbeit richtet sich meine Aufmerksamkeit auf die europäisch dominierte westliche Kulturwelt. Zum einen, weil sie die Kultur ist, in der ich lebe und die mir somit am Vertrautesten ist, zum anderen, weil sie die Kultur ist, die die Welt in den letzten sechs- bis siebenhundert Jahren vermutlich am meisten geprägt hat. Zeugnisse für den Umgang mit Wildnis sollten sich hier also leichter finden lassen.
Ein Fluchtpunkt ist der Punkt einer Zentralperspektive in dem sich die imaginären Linien eines Bildes treffen und der so für den räumlichen Eindruck des nichträumlichen Bildes sorgt. Doch dieser lineare Fluchtpunkt ist eine Erfindung der Renaissance, in der menschlichen Wahrnehmung spielt er eigentlich keine Rolle, da das Gehirn die Ansicht, beispielsweise einer Landschaft, aus fragmentarischen Einzelwahrnehmungen kombiniert. Trotzdem hilft der konstruierte Fluchtpunkt, dem Betrachter, den eigenen Standpunkt festzustellen und sich und seine Position dem Dargestellten gegenüber zu verorten.
Wildnis scheint mir eben solch ein Fluchtpunkt zu sein. Zum einen in der obigen Bedeutung konstruierter Ansicht, zum Anderen aber auch als idealer Ort, zu dem man Zuflucht sucht und der helfen soll, Last und Mühsal des Alltags hinter sich zu lassen. Zumindest verspricht das die Werbung. In der realen Wildnis tritt dies vielleicht sogar ein, meistens jedoch nicht in der Form, die gewünscht wurde. Denn die Wildnis, die es noch gibt, oder sprechen wir ökologisch korrekt lieber von wildnisnahen Naturräumen, wird nach wie vor von Gefahr und Bedrohung für Leib und Leben dominiert. Wer also die Flucht in die tatsächlich vorhandene Wildnis antritt, hat gute Chancen, vom Regen in die Traufe zu geraten und muss feststellen, dass sich die Wildnis in ihrer gefahrvollen Realität nicht als Refugium eignet.
Ich hoffe, im vorliegenden schriftlichen Teil meiner Abschlussarbeit für den Master of Arts Gestaltung am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld, diesen Fragen so weit es mir möglich ist, auf die Spur zu kommen. Dazu betrachte ich den Diskurs der Wildnis zunächst aus der naturwissenschaftlichen Perspektive. Wo ist eigentlich diese Wildnis, von der immer alle reden? Existiert sie überhaupt noch und wie geht unsere moderne Welt damit um?
Im zweiten Teil beschäftigt mich die Frage, warum von Wildnis solch eine Faszination ausgeht. Gibt es psychologische und emotionale Verknüpfungen zur Wildnis? Es geht also um die vielfach beschworene Verbindung von innerer und äußerer Natur, von der Wirkung der Umwelt auf unsere Psyche.
Ausgehend von konkreten leiblichen Bedürfnissen des Menschen und grundsätzlichen anthropologischen Grundlagen, untersuche ich, wo Gemeinsamkeiten von Bewusstem und Zivilisation, sowie von Unbewusstem und Wildnis zu finden sind. Der letzte Abschnitt kann bereits als Überleitung zum dritten und letzten Teil gelesen werden. Gewisse Grundzüge des Menschen im Umgang mit der ihn umgebenden äußeren Natur werden von Fachrichtungen wie Ethnologie und Anthropologie dazu herangezogen, den Ursprung von Kultur und Zivilisation zu erklären.
Im dritten Kapitel schließlich möchte ich anhand der Analyse einiger Kulturzeugnisse überprüfen, ob diese Konstruktion von Wildnis tragfähig ist. Dazu betrachte ich die medialen Produkte der menschlichen Auseinandersetzung mit der Wildnis in Kunst und Kultur und versuche, sie mit historischen Entwicklungen in Beziehung zu setzen.
1 der Generalsekretär der Vereinten Nationen Ban Ki Moon im International Herald Tribune vom 17./18. 11. 2007
