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Andreas Gursky der Erhabene

(11.536 Zeichen inkl. Leerzeichen, bisher unveröffentlicht)

Das Bild ist wirklich groß: 202,3 cm hoch und 326 cm breit. Wenn man sich die Einzelheiten genau ansieht, kann man die Ränder nicht mehr sehen. Abgebildet ist das Handelsparkett der Börse in Chicago („Chicago Board of Trade II“ von 1999). Fotografiert wurde sie vom Düsseldorfer Künstler Andreas Gursky. Man sieht die Unruhe schon von weitem. Je näher man kommt, desto mehr Details lassen sich ausmachen. Aus den unterschiedlichen Farbklecksen werden einzelne Börsenmakler, die wild gestikulierend zwischen Computerterminals und Telefonen herumlaufen, mit Zetteln wedeln oder erschöpft am Boden sitzen. Beeindruckend, wie man trotz der monumentalen Präsenz des Bildes jeden einzelnen Protagonisten des Spektakels erkennen kann. Fast meint man, sogar lesen zu können, was auf dem Papier steht, das überall herumliegt. Wenn man dann wieder einen Schritt zurückgeht, denkt man „Genau so muss es sein! So fühlt man sich also als Broker kurz vor dem Herzinfarkt.“ Doch neben die Faszination für die dargestellte Situation und die Perfektion der Darstellung gesellt sich ein gewisses Unwohlsein. Man hat nicht das Gefühl, den Mechanismus der Börse oder der Globalisierung jetzt verstanden zu haben und schon gar nicht meint man, ihn beeinflussen zu können. Aber man weiß, dass man Teil davon ist, ob man will oder nicht.

Neben dem Massenhandel hat Gursky noch andere Phänomene fotografiert, die das moderne Leben derzeit prägen: Massenkonsum („99 Cent II“, 2001), Massenarbeit („Nha Trang“, 2004), Massentourismus („Rimini“, 2003), Massenunterhaltung („Madonna I“, 2001) oder Massentierhaltung („Fukuyama“, 2004), um nur einige Beispiele zu nennen. Und die Masse ist es auch, die im Angesicht der Bilder erschlägt. Nicht nur das mächtige Format der Arbeiten von zum Teil mehreren Quadratmetern überwältigt den Betrachter. Auch das Motiv lässt sich, ähnlich wie bei „Chicago Board of Trade II“, nicht auf einen Blick erfassen. Und doch kann man den Blick nur schwer davon abwenden, überall wimmelt und wuselt es, überall gibt es Details in die man sich versenken kann, ähnlich wie in den Kinderbüchern von Ali Mitgutsch. Mitgutsch will Kindern die Welt zeigen, sie über das Bild mit ihrer Mitwelt vertraut machen, Gursky bildet Phänomene ab, für die es vorher noch keine adäquaten Bilder gab: Globalisierung, Massenarbeit, Massentierzucht, Konsum, Freizeitindustrie und zeigt dem Betrachter so ebenfalls, was seinen Alltag bestimmt, auch wenn er es selbst vielleicht noch nicht gemerkt hat.

Was aber ist daran erhaben?

Ursprünglich ist das Erhabene eine Kategorie in der Rhetorik der klassischen Antike. Bereits in der Tragödientheorie bei Aristoteles und Platon spielt das Erhabene neben Enthusiasmus, Katharsis und Pathos eine Rolle. Das zentrale Werk der Antike zum Begriff des Erhabenen steuert jedoch mit der Schrift „Vom Erhabenen“ der Theoretiker Longinus oder auch Pseudo-Longinus bei. Das Erhabene bezeichnet bei Longinus einen rhetorischen Stil, der die Zuhörer verzückt und sie erschüttert. Er ist dem genialen Prosaautoren oder Dichter angeboren und kann nicht erworben werden.

Mit dem englischen Dramatiker und Kritiker John Dennis (1657 – 1734) teilt sich die Ästhetik im 18. Jh. auf in das Schöne und das Erhabene, das Dennis am eigenen Leib während einer Alpenüberquerung erfuhr: „a delightful Horrour, a terrible Joy, and at the same time, that I was infinitely pleas’d, I trembled“. Das Erhabene kennzeichnet sich also durch die Erfahrung des angenehmen Grauens, gepaart mit dem Vergnügen am Schönen, es tritt die totale Überwältigung ein, die den Betrachter fassungslos macht. Damit bilden erhabene Landschaften den Gegenpart zu den amönen Landschaften, die bis dahin die Kunst dominierten.

Bei Edmund Burke (1729 – 1797), der mit „A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful“ ein weiteres Standardwerk über das Erhabene und seine Unterscheidung vom Schönen schuf, nimmt der Schrecken eine zentrale Rolle ein. Er aktiviert den Selbsterhaltungstrieb des Menschen und führt nach der totalen Übermächtigung zur mit totaler Lust gekoppelten Selbst-Bewusstwerdung. Der Endlichkeit der menschlichen Physis tritt die Unendlichkeit menschlichen Geistes entgegen.

Beinahe zeitgleich veröffentlicht Immanuel Kant (1724 – 1804) 1790 die „Kritik der Urteilskraft“, in der er sich explizit mit dem Erhabenen und seiner Unterscheidung vom Schönen auseinander setzt. Das Schöne ist freies Spiel von Einbildung und Verstand, spontanes, subjektives Wohlgefallen. Das Erhabene unterteilt Kant in das mathematisch-erhabene und das dynamisch-erhabene. Das mathematisch-erhabene überwältigt durch schiere Größe oder Anzahl, dies ist jedoch immer auch eine Frage des Maßstabs: „Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist“. Das dynamisch-erhabene der Natur besteht schließlich aus zwei Phasen: in der ersten Phase schafft es die Einbildungskraft des Menschen bei Begegnung mit einem Naturphänomen nicht, die Eindrücke noch zu verarbeiten. Diese Überforderung führt zu Schrecken und Unlust. Diese wird in der zweiten Phase zur Lust, da das Individuum erkennt, dass der Geist, die Vernunft, größer ist als die Sinneswelt der Natur. Dabei kann die Erfahrung durchaus zwischen den beiden Phasen oszillieren. Das Erhabene ist somit ein Paradox, da es das Schöne und den Schrecken vereint.

Adorno zufolge bringt die Kategorie des Erhabenen die Kunst insgesamt auf den Begriff. „Kunst ist eine Instanz des Standhaltens. Dazu gelangt sie allein durch Negation und Entronnensein.“ (Wolfgang Welsch in Pries, 1989, S. 185). Das jedoch widerspricht Adornos Ansatz der Versöhnung. Das Dilemma löst Adorno auf, indem er das Erhabene von der Herrschaft über Natur zur Erfahrung der eigenen Naturhaftigkeit transformiert. „Daher ist Kunst gehalten, „Die Rettung des Vielen im Einen“ (Adorno) zu leisten, indem sie inmitten ihres herrschaftlichen Ansatzes gegen dessen Herrschaftscharakter operiert.“ (ebd., S. 193). Wieder ein Paradox, das kennzeichnend für das Erhabene ist. Nach Adorno ist aber genau dies die Qualität nicht nur des Erhabenen, sondern der Kunst insgesamt. Dabei ist neben der „Rettung des Vielen im Einen“ die Idee der „Gerechtigkeit gegenüber Heterogenem“ entscheidend. Widersprüchlichkeiten werden nicht aufgelöst, sondern ausgehalten und in ihrer Diversität integriert.

1948 veröffentlicht Barnett Newman seinen Essay „The Sublime is now“ und versucht auch in seinen großformatigen Farbfeldmalereien, der Erfahrung des Erhabenen gerecht zu werden. „Dass hier und jetzt dies Bild ist und nicht vielmehr nichts, das ist das Erhabene.“ Schreibt dazu der französische Philosoph Jean-Françoise Lyotard in seinem Essay „Das Erhabene und die Avantgarde“. Für Lyotard ist das Erhabene „…jene Art von künstlerischer Sensibilität, die die Moderne kennzeichnet.“ Und in der Tat zieht sich durch die gesamte moderne Kunstgeschichte die Abkehr von der nachbildenden, mimetischen Kunst zur Darstellung des Undarstellbaren. Von den lichtdurchfluteten Landschaften der Impressionisten bis zu den Installationen eines Damien Hirst findet man immer wieder genau diesen Versuch, des Ungreifbaren habhaft zu werden.

Angestoßen auch von technischen Neuerungen, wie beispielsweise der Fotografie, die den Malern des frühen 20. Jahrhunderts das naturgetreue Abbilden abnahm. Umso interessanter, dass sich nun, ebenfalls durch technischen Fortschritt ermöglicht, die Fotografie der Malerei annähert und ihre Produktionsprinzipien übernimmt. Erst die elektronische Bildverarbeitung der letzten Jahre ermöglichte es Gursky, wie ein Maler zu arbeiten. War er früher dazu gezwungen, das Bild allein durch den Sucher der Kamera zu komponieren und die Elemente auszulassen, die das Bild stören, ist er nun in der Lage, jedes einzelne „picture element“ (pixel) zu kontrollieren. Nun kann er einem Maler gleich durch hinzufügen und freie Komposition bestimmen, wie das Bild werden soll und hat dennoch den Vorteil, die Spur der Wirklichkeit zu erhalten, die Fotografie kennzeichnet.

Und so trifft er sich, was das Motiv der Arbeiten angeht, wieder mit den Malern des Erhabenen des 19. Jahrhunderts wie etwa John Martin oder Philip de Loutherburg.

Sind es bei diesen in erster Linie überwältigende Naturkräfte, die zur Darstellung gelangen, sind es bei Gursky eben die modernen Massenphänomene, die uns in unbestimmten Schrecken versetzen. Dort brechen Vulkane aus, gehen Lawinen ab oder die dargestellten Personen verlieren sich in Schneestürmen, hier bricht die Love-Parade aus, die globalisierten Waren strömen und der Betrachter verliert sich in gigantischen Supermarktregalen. Im 19. Jahrhundert wurde durch die industrielle Revolution das Leben der Menschen in Arbeitszeit und Freizeit geteilt, gleichzeitig ermöglichte es der technologische Fortschritt, übermächtige Naturräume wie die Alpen überhaupt touristisch zu erschließen. Im 20. und 21. Jahrhundert sind es Technologien wie das Internet, die globale Warenströme erst möglich und vor allem auch sichtbar machen. Und die mediale Vermittlung steht stets im Zentrum des Anliegens. Nur Wenige haben damals wie heute die Gelegenheit sich den Bedrohungen in Natura zu stellen, seien es Vulkane oder Welthandel. Allein die mediale Vermittlung, erlaubt es, die Erfahrung nachzuvollziehen und im sicheren Raum des Museums zu reflektieren.

Wie sich so etwas strukturell umsetzen lässt konnte sich Gursky bei modernen Künstlern wie Jackson Pollock oder eben Barnett Newman ansehen: flächige All-Over-Strukturen ohne Horizont, die hierarchiefreie Motivverteilung über das ganze Bild, die „Rettung des Vielen im Einen“ und die Idee der „Gerechtigkeit gegenüber Heterogenem“, wie es bei Adorno heißt. Und ebenso wie Pollock oder Newman ist es Gursky wichtig, dass seine Bilder ein Format haben, das sich nicht ohne weiteres auf einen Blick erfassen lässt. Der Betrachter soll sich verlieren im Bild, die Entgrenzung des Ichs in der Entgrenzung des Motivs erleben.

Doch auch mit dem anfangs erwähnten Kinderbuchautor Mitgutsch gibt es Berührungspunkte. Das Erhabene ist bei Gursky keine abstrakte vom Leben gelöste Erfahrung wie etwa bei Newman. Für ihn ist diese Faszination am Überwältigtwerden Alltag und findet sich an so profanen Orten wie der Börse, einem Popkonzert oder einem Supermarktregal. Damit ist er auf einer Linie mit Lyotard, der feststellt: „Es ist etwas Erhabenes in der Kapitalistischen Ökonomie.“ Die meisten fühlen sich tatsächlich bei der Beschäftigung mit dem modernen Leben unwohl und können nicht genau sagen, warum sie es für gefährlich halten. Bei genauem Hinsehen bleibt das Gefühl, vom eigenen Leben entfremdet zu werden, es nicht mehr selbstbestimmt in Händen zu halten, von fremden Mächten dominiert zu werden – genau wie bei den Vulkanausbrüchen, Lawinen und Schneestürmen des 19. Jahrhunderts.

So ist Gursky ein brillianter Rhetoriker wie einst Longinus, ein Dramatiker des „schönen Schreckens“ wie John Dennis, ein Verfechter des „Vielen im Einen“ wie Theodor W. Adorno und nicht zuletzt ein Erschaffer von Bildern, an denen Kinder ähnlichen Spaß haben wie an den Büchern von Ali Mitgutsch.


Literatur:

GURSKY, Andreas, „Andreas Gursky“, Katalog anlässlich der Ausstellung von Andreas Gursky im Haus der Kunst in München 2007, Köln 2007

PRIES, Christine (Hrsg.) „Das Erhabene – zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn“, Weinheim 1989

LYOTARD, Jean-Françoise, „Das Erhabene und die Avantgarde“, veröffentlicht u. a. in Kunstforum International Band 75, Ruppichteroth 1984, S. 121 ff.

MITGUTSCH, Ali, „Rundherum in meiner Stadt“, Augsburg 2007

 


Bielefeld, den 26. Februar 2008